Nachdem durch die Unfallrekonstruktion die Kollisionsgeschwindigkeiten und die Ausgangsgeschwindigkeiten der Beteiligten bekannt sind, kann eine Vermeidbarkeitsbetrachtung vorgenommen werden.

Unfallablauf

Bei einer räumlichen Vermeidbarkeit wird überprüft, ob das zu betrachtende Fahrzeug vor dem Kollisionspunkt hätte zum Stehen kommen können.

Räumliche Vermeidbarkeit bei einer Ausgangsgeschwindigkeit von 57 km/h

Bei einer nochmals etwas geringeren Geschwindigkeit ist der Abstand des hier roten Fahrzeuges zu dem Kollisionspunkt etwas größer. Eine derartige Betrachtung kann gerade bei Fußgängerunfällen zu betrachten sein, wenn auf einen Sicherheitsabstand abzustellen sein sollte. Dies unterliegt letztlich auch der juristischen Würdigung.

Räumliche Vermeidbarkeit bei einer Ausgangsgeschwindigkeit von 55 km/h

Bei einer zeitlichen Vermeidbarkeit wird geprüft, ob das zu betrachtende Fahrzeug bei einer geringeren Ausgangsgeschwindigkeit derart später an der Kollisionsstelle angekommen wäre, dass es dem Unfallkontrahenten möglich gewesen wäre, seinerseits den Gefahrenkanal kollisionsfrei zu verlassen.

Zeitliche Vermeidbarkeit bei einer Ausgangsgeschwindigkeit von 65 km/h

Wenn der Unfall räumlich vermeidbar ist, ist die Betrachtung der zeitlichen Vermeidbarkeitsmöglichkeit nachrangig, da der Unfallkontrahent wegen des bereits stehenden anderen Fahrzeuges „alle Zeit der Welt“ hätte. Bei Unfällen mit langsamen Kontrahenten, beispielsweise Fußgängern kann möglichweise eine zeitliche Vermeidbarkeit auch deswegen nicht in Betracht kommen, weil er seinerseits aufgrund der Schrecksituation stehen geblieben sein könnte.

Reaktion

Bei den vorstehenden Beispielen wurde auf eine Reaktionszeit von 1,0 s abgestellt.

Im Rahmen der Analyse der Wege-Zeiten-Beziehungen und bei einer Vermeidbarkeitsbetrachtung ist auf die Reaktionszeit eines (Kraft-)fahrers einzugehen.

Es wurden zahlreiche Untersuchungen zu der Reaktionszeit veröffentlicht. Die münden in der Empfehlung des 20. Deutschen Verkehrsgerichtages 1982, resp. im Kölner Modell, welche hier kurz vorgestellt werden:

Die Reaktionszeit kann eine Blickzuwendungszeit enthalten, wenn sich das Objekt außerhalb des fovealen Bereiches befindet. Die Reaktionszeit enthält eine Reaktionsgrundzeit, die wiederum in die Wahrnehmungszeit, die Erkennungszeit, die Entscheidungszeit und die Reizleitungszeit unterteilt. In der anschließenden Reaktionsphase laufen die Umsetzzeit, in der der Fahrer den Fuß vom Gas- auf das Bremspedal setzt – sofern nicht schon bereits Bremsbereitschaft bestand, die Bremsansprechzeit und die Bremsschwellzeit ab. Es folgt der Beginn der Vollbremsung mit ggf. nicht sichtbarer Spurzeichnung.

Das nachfolgend gezeigte Schema zeigt den gegenwärtigen Stand der Erkenntnis in einfach strukturierten Situationen, die nach hiesiger Auffassung auch im vorliegenden Fall zu betrachten sein wird.

Reaktionszeitenmodell

Durch Auswertung von weiteren vorkollisionären Spuren oder durch Weg-Zeit-Betrachtungen kann zudem im Rahmen einer Reaktionsbetrachtung ermittelt werden, wer wann und wo reagierte und ob eine sachgerechte Reaktion erfolgte oder ob verspätet reagiert wurde. Es kann dann eine erweiterte Vermeidbarkeitsbetrachtung mit Bezug auf einen anderen, vorgelagerten Reaktionsaufforderungspunkt vorgenommen werden.

Reaktionsaufforderungspunkt

Durch technische Sachverständige wurden hierzu zahlreiche Untersuchungen durchgeführt. Es gibt Veröffentlichungen, die auf einen räumlichen Aspekt abstellen, wie es auch Untersuchungen gibt, die einen zeitlichen Aspekt betrachten.

Der Unterzeichner geht – auch aufgrund eigener zahlreicher diesbezüglicher Untersuchungen im Rahmen der Betreuung von studentischen (Abschluss-) Arbeiten – davon aus, dass auch die Anfahrbeschleunigung zu betrachten sein wird: Bei einem zügigen Anfahrvorgang wird die Reaktionsaufforderung bei einer geringeren Anfahrstrecke und bei einem langsameren Anfahrvorgang wird erst nach einer längeren Wegstrecke eine Reaktionsaufforderung vorliegen. Dies steht auch in Einklang mit einer Veröffentlichung, die die Sehwinkelabhängigkeit als Maß für die Reaktionsaufforderung betrachtet. Mit der Sehwinkelabhängigkeit wird sowohl die räumliche Distanz wie auch die Geschwindigkeit, resp. die Beschleunigung in die Betrachtung mit einbeziehen.